Das Schweizer Erbrecht sieht für besonders nahestehende gesetzliche Erben einen besonderen Schutz vor, sie sollen nicht leer ausgehen. Sie haben am Nachlass einen gesetzlichen Erbanspruch, welcher jedoch vom Erblasser abgeändert werden kann. Ihm sind hierbei jedoch Schranken gesetzt: ein im Gesetz festgelegter Teil des gesetzlichen Erbanspruchs – der Pflichtteil – darf diesen Erben nicht durch eine Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) entzogen werden. So darf beispielsweise ein Vater nicht sein gesamtes Erbe der Tochter zukommen und den Sohn leer ausgehen lassen. Eine solche Verfügung wäre mittels Herabsetzungsklage anfechtbar. Die Differenz zwischen den zusammengezählten Pflichtteilen und dem Gesamtnachlass stellt die frei verfügbare Quote dar, welche der Erblasser mittels Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) beliebig zuteilen kann.

Grundsatz

Das Gesetz sieht für jeden denkbaren Erbfall vor, wie der Nachlass vererbt wird, sofern der Erblasser keine Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) hinterlässt. Es wird zwischen zwei Arten von gesetzlichen Erben unterschieden:

  • den Verwandten und
  • dem überlebenden Ehegatten / eingetragener Partner.

Verwandte

Die nächsten Verwandten sind die Nachkommen, welche zu gleichen Teilen erben (Art. 547 Abs. 2 ZGB). Sind keine solchen vorhanden, erben die Eltern bzw. deren Nachkommen nach Stämmen (Art. 458 Abs. 1 ZGB). Existieren weder Nachkommen noch elterliche Erben, so geht der Nachlass an die Grosseltern bzw. an deren Nachkommen, ebenfalls nach Stämmen (Art. 459 Abs. 1 ZGB).

Ehegatten / eingetragene Partner

Gibt es zusätzlich einen überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner, so müssen die Verwandten das Erbe mit diesem im gesetzlich vorgegebenen Verhältnis teilen (Art. 462 ZGB).

Keine gesetzlichen Erben

Sind keine gesetzlichen Erben vorhanden, fällt der Nachlass an das Gemeinwesen. (Art. 466 ZGB)

Sind Nachkommen vorhanden, erben diese grundsätzlich den gesamten Nachlass zu gleichen Teilen, und zwar nach Stämmen (Art. 457 Abs. 2 ZGB). Mit einem überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner des Erblassers müssen sie jedoch den Nachlass hälftig teilen (Art. 462 Ziff. 1 ZGB).

Hinterlässt ein Erblasser keine Nachkommen, fällt sein Nachlass je hälftig an die Eltern bzw. an deren Nachkommen (Art. 458 Abs. 2 ZGB), und zwar nach Parentelen (Stämmen). Ist z.B. die Mutter vorverstorben, geht die Hälfte an den Vater und die andere Hälfte nach Stämmen an die Nachkommen der Mutter (somit an die Geschwister des Erblassers bzw. deren Nachkommen nach Art. 458 Abs. 3 ZGB). Existiert in einer Parentel kein Erbe, fällt der gesamte Nachlass an die andere Parentel (Art. 458 Abs. 4 ZGB). Gibt es allerdings einen überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner, so spricht das Gesetz diesem drei Viertel des Nachlasses zu (Art. 462 Ziff. 2 ZGB), womit nur noch ein Viertel je hälftig an die elterlichen Parentelen geht.

Sind weder Nachkommen noch elterliche Erben vorhanden, so fällt der Nachlass zu gleichen Teilen an die Grosseltern bzw. an deren Stämme / Parentelen (Art. 459 Abs. 1 ZGB). Gibt es daneben allerdings noch einen überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner, so fällt der gesamte Nachlass an diesen und die grosselterlichen Erben erhalten nichts (Art. 462 Ziff. 3 ZGB).

Hat der überlebende Ehegatte / eingetragene Partner mit Nachkommen zu teilen, so beträgt sein gesetzlicher Erbteil am Nachlass die Hälfte (Art. 462 Ziff. 1 ZGB). Sind keine Nachkommen, aber Eltern des Erblassers vorhanden, so beträgt der gesetzliche Erbanspruch ¾ (Art. 462 Ziff. 2 ZGB). In allen anderen Fällen erbt er von Gesetzes wegen alles (Art. 462 Ziff. 3 ZGB).

Der Erblasser kann die gesetzlich vorgesehene Aufteilung des Nachlasses verändern, indem er eine Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) errichtet. Er ist hierbei jedoch nicht vollständig frei. Das Gesetz sieht für gewisse besonders nahestehende gesetzliche Erben vor, dass ihnen ein gewisser Teil des gesetzlichen Erbanspruchs nicht entzogen werden darf. Diesen Pflichtteil muss ein solcher Erbe in jedem Fall erhalten.

Grundsatz

Das Gesetz sieht für

  • die Nachkommen,
  • für den überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner und
  • falls keine Nachkommen vorhanden sind: für die Eltern des Erblassers

einen Pflichtteilsanspruch vor, der diesen nicht entzogen werden kann (Art. 471 ZGB).

Weitere gesetzliche Erben

Alle anderen gesetzlichen Erben (z.B. Geschwister des Erblassers) haben keinen Pflichtteilsschutz, d.h. sie können von der Erbschaft vollumfänglich ausgeschlossen werden.

Nachkommen

Der Pflichtteil der Nachkommen beträgt 3/4 des gesetzlichen Erbanspruchs. Sie erhalten somit zwingend 3/4 des gesamten Nachlasses, wenn es keinen überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner gibt, bzw. 3/8 des Nachlasses, wenn sie mit einem solchen zu teilen haben. (Art. 471 Ziff. 1 ZGB)

Eltern

Der Pflichtteil der Eltern beträgt die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs (Art. 471 Ziff. 2 ZGB). Somit geht die Hälfte des Nachlasses zwingend an sie (bzw. 1/4, wenn sie mit einem überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partner zu teilen haben).

Überlebender Ehegatte

Der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partners beträgt in jedem Fall die Hälfte seines gesetzlichen Erbanspruchs (Art. 471 Ziff. 3 ZGB). Hat er mit Nachkommen zu teilen, beträgt der Pflichtteil somit 1/4 des Nachlasses. In Kombination mit elterlichen Erben beträgt sein Pflichtteil 3/8 des Nachlasses. Hinterlässt der Erblasser weder Nachkommen noch Eltern, beträgt der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten / eingetragenen Partners die Hälfte des Nachlasses.

 

Sind Pflichtteilserben vorhanden, darf der Erblasser über seinen Nachlass nicht vollumfänglich frei verfügen. Er muss die Pflichtteilsrechte beachten. Bloss die Differenz zwischen dem Nachlass und den addierten Pflichtteilsquoten untersteht der uneingeschränkten Verfügbarkeit.

Diese frei verfügbare Quote kann der Erblasser entweder

  • einer frei gewählten Drittperson,
  • einem oder mehreren gesetzlichen Erben oder
  • einem oder mehreren Pflichtteilserben

zukommen lassen.

 

Grundsatz

Überschreitet eine Erblasserin im Testament / Erbvertrag oder durch ein Rechtsgeschäft unter Lebenden (Schenkung, Erbvorbezug, Erbauskauf oder sonstige Entäusserung zu Umgehungszwecken) ihre Verfügungsfreiheit und verletzt den Pflichtteil eines Pflichtteilserben, ist diese Verfügung / Rechtsgeschäft nicht automatisch unwirksam.

Anfechtung

Sie kann vom in seinem Pflichtteil verletzten Erben innert eines Jahres ab Eröffnung der Verfügung von Todes wegen / ab Kenntnis der Verletzung des Pflichtteilsrechts gerichtlich angefochten werden (Herabsetzungsklage). Nach Ablauf dieser Verwirkungsfrist, die nicht unterbrochen werden kann, wird die Verfügung von Todes wegen unangreifbar (Art. 533 Abs. 1 ZGB). Ausnahmsweise kann der verletzte Erbe auch nach Ablauf der Frist die Herabsetzung noch einredeweise geltend machen (Art. 533 Abs. 3 ZGB). Voraussetzung hierzu ist jedoch, dass der verletzte Erbe im (Mit-)Besitz von Nachlasswerten ist.

Erblasserin hinterlässt ihren Ehemann sowie zwei volljährige gemeinsame Kinder. Der Nachlass beläuft sich (nach der güterrechtlichen Auseinandersetzung) auf CHF 800’000.00. Zu Lebzeiten hat der Sohn eine Schenkung von CHF 400’000.00 erhalten, welche der Erblasser von der Ausgleichungspflicht befreit hat. In seinem Testament setzte er die Ehefrau und den Sohn je zur Hälfte zu Erben ein. Das Testament wird allen gesetzlichen Erben am 12. Mai 2014 eröffnet. Die Tochter ist in ihrem Pflichtteil verletzt: der für die Berechnung der Pflichtteile massgebliche Nachlass beläuft sich auf CHF 1’200’000.00 (inklusive der Schenkung zu Lebzeiten). Der Pflichtteil der Tochter beträgt 3/16 (gesetzlicher Erbanspruch der Nachkommen ½, somit jedes Kind je ¼; Pflichtteil davon ¾), somit CHF 225’000.00. Sie muss zur Durchsetzung ihres Anspruchs bis spätestens am 12. Mai 2015 beim zuständigen Gericht auf Herabsetzung klagen, ansonsten sie ihren Anspruch verliert.

Das Gesetz schützt die nahestehenden Erben mittels Pflichtteilsanspruch davor, bei einer Erbschaft leer auszugehen. Um ihre Pflichtteilsansprüche durchzusetzen, müssen diese Erben jedoch vor Gericht auf Herabsetzung klagen. Tun sie das nicht innert Jahresfrist ab Eröffnung einer allfälligen Verfügung von Todes wegen (bzw. ab Kenntnis der Verletzung), bleibt die Verletzung bestehen.

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